von Alexander Ebel (zuerst erschienen in: Evangelischer Kirchenbote. Sonntagsblatt für die Pfalz, Nr. 24/2004, S.8-9)
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Demzufolge hat der weise indische Brahmane Sissa das Spiel erfunden, um dem Tyrannen Shiram zu zeigen, dass ein König ohne seine Untertanen verloren ist. Dem Herrscher gefällt es so sehr, dass er Sissa einen Wunsch erfüllen will. Daraufhin bittet sich der Weise so viele Weizenkörner aus, wie nötig sind, um die 64 Felder des Brettes zu füllen, beginnend mit einem Korn auf dem ersten Feld und einer Verdoppelung auf jedem weiteren. Shiram fühlt sich von der vermeintlichen Bescheidenheit Sissas beleidigt und lässt ihn in Ketten legen. Den „Sack Weizen“ solle der Tölpel vor seiner Hinrichtung noch in Empfang nehmen. Doch dann präsentieren die Rechner das Ergebnis: 18 446 744 073 709 551 615 Körner hatte der Weise gefordert, mehr als alle Ernten dieser Welt. „Ein mit Körnern beladener Güterzug (20 Tonnen pro Waggon), der mit 80 Stundenkilometern an uns vorbeiführe, bräuchte 730 Jahre“, versuchte einmal die Schachzeitung „Rochade“ diese unvorstellbare Zahl bildlich darzustellen. Der Tyrann machte den klugen Brahmanen zu seinem Berater und regierte fortan weise und umsichtig. Das Weizenkorn Wahrheit an der Legende liegt im vermuteten Ursprungsland des Schachspiels, denn die meisten Schachhistoriker rechnen heute mit den ersten Prototypen tatsächlich im sechsten Jahrhundert in Indien. Von dort gelangte das Spiel nach Ostasien und in den Vorderen Orient. Im persischen Buch vom Schatrang aus dem achten Jahrhundert lässt sich ein Abbild der indischen Heeresordnung erkennen. Vielleicht war das Schachspiel also ursprünglich ein Modell der indischen Armee, die auf dem Spielbrett nachgebildet wurde.
In Persien entstand möglicherweise die Regel, dass der König nicht geschlagen werden darf und die Partie sofort verloren ist, wenn er sich einem Angriff nicht entziehen kann (Matt). Der persische Schah galt als eine Gottheit, der sogar im Spiel mit höchstem Respekt zu begegnen war. So wirkten schon sehr früh religiöse Motive auf die Entwicklung des Schachs ein – und der Schah lieh dem Spiel seinen Namen. Um die Jahrtausendwende hatte sich das Schachspiel auch in Europa verbreitet und eine Umwandlung durchgemacht. Einer der bedeutendsten Funde mittelalterlicher Schachfiguren zeigt, wie es der abendländischen Gesellschaftsordnung angepasst worden war. 1831 entdeckte ein Pächter eines Landstrichs an der Westküste der Isle of Lewis einen Sack mit 78 Schachfiguren aus Walrosszahn, die aufgrund der Kleidung und Ornamentik auf die Mitte des zwölften Jahrhunderts datiert werden – die „Lewis Chessmen“. Während drei Figuren des arabischen Ensembles, nämlich König, Reiter und Fußsoldaten, übernommen worden waren, konnten die drei anderen Positionen, Kampfwagen, Elefant und Wesir, nicht in das höfische Modell integriert werden. Dabei war die Darstellung des persischen Kampfwagens als Wächter (später als Mauerturm) am ehesten nachvollziehbar. Der Geschlechterwechsel vom arabischen Wesir zur europäischen Königin hat jedoch zu wilden Spekulationen geführt. Manche Schachhistoriker sahen in ihr sogar die Mutter Gottes, die durch Marienverehrung auf das Schachbrett gelangt sein soll. Der persisch-arabische Elefant erscheint bei den Lewis Chessmen als Bischof, wie der Läufer im Englischen bis heute heißt. Die Araber konnten den Elefanten noch als Teil der indischen Armee zuordnen. Im christlichen Abendland ging diese Bedeutung verloren. Zudem hatten die arabischen Figuren nur abstrakte Formen, denn der Koran verbot ihre Gestaltung als Abbilder von Menschen oder Tieren. Möglicherweise wurden die angedeuteten Stoßzähne des Elefanten in England als Mitra des Bischofs interpretiert, in Frankreich wiederum als Narrenkappe, weshalb die Figur dort immer noch „le fou“ heißt. So muss der Läufer bis heute mit verschiedenen Namen und Bedeutungen auskommen. In Schachdiagrammen wird er aber überall durch die Bischofsmütze symbolisiert.
Obwohl der Gescholtene sich noch verteidigt, das kanonische Recht verbiete zwar das Würfelspiel, Schach werde jedoch nicht ausdrücklich genannt, muss er sich letztlich Damiani geschlagen geben, der mit der kirchenrechtlichen Bestimmung jede Art von Spiel verdammt ansieht. In der Folgezeit bis zum 16. Jahrhundert hagelte es überall in Europa kirchliche Verbote, von denen auch das Schachspiel betroffen war. Im Orden der Tempelherren wird es unter dem Einfluss Bernhards von Clairvaux neben anderen Spielen ausdrücklich verboten. Die Kämpfer Christi könnten ihre Zeit nützlicher und heiliger ausfüllen. In Frankreich verbietet Anfang des 13. Jahrhunderts Odo von Sully, Bischof von Paris, den Geistlichen, ein Schachbrett zu Hause zu haben.
Das vierte römische Laterankonzil 1215 sprach sich gegen sämtliche Spiele aus – wie überhaupt in keinem Dekret der allgemeinen Kirchenkonzilien Schach explizit genannt ist. Ob es unter das generelle Verbot fiel, ist unsicher. Die Provinzialsynoden kamen konkreter zur Sache: die Synoden zu Trier 1227 und 1310, Mainz 1316 und Würzburg 1329 ließen keinen Zweifel daran, dass Kleriker nicht Schach zu spielen hatten. Die Kritiker unter den Theologen verurteilten am Schachspiel die lange Spieldauer, die eine geistige Konzentration über das Maß hinaus erfordere und so Zeit und Kraft koste, die doch in geistliche Übungen zu investieren seien. Für Petrus Damiani, den Denunzianten des Florentiner Bischofs, zählte Schach außerdem noch zu den Zufalls- und Würfelspielen. Tatsächlich gab es wohl Varianten, die mit Würfeln und vor allem um Geld gespielt wurden. Die Befürworter des Spiels konnten an den Dominikanermönch Jakob von Cessolis anknüpfen. Dessen Werk „Von den Sitten der Menschen und den Pflichten der Vornehmen und Niederen“, Ende des 13. Jahrhunderts in vielen Sprachen erschienen, war das weitest verbreitete Buch des Mittelalters nach der Bibel. Es versammelte Moralpredigten über Stände und Berufe, auf die Cessolis die Steine des Schachs deutete. Spätere Bearbeiter, wie etwa der Mönch und Leutpriester zu Stein am Rhein, Konrad von Ammenhausen, in seinem „Schachzabelbuch“, haben die Interpretationen Cessolis‘ ausführlich weitergesponnen. Die typische Schachsymbolik findet sich aber schon um 1260 bei Johannes Gallensis, Doktor der Theologie an der Universität Paris. In seiner „Summa collatium“ heißt es: „Die Welt gleicht einem Brett mit weißen und schwarzen Feldern, auf denen die Menschen wie Schachgruppen verschiedene Plätze einnehmen. Nach vollendetem Spiel wartet aber auf sie alle ungeachtet ihrer verschiedenen Stellung im Leben wie im Spiel derselbe Ort, und wie der König dabei wohl zuunterst im Beutel zu liegen kommen könnte, so könnten auch die Großen der Erde zur Hölle, die Armen aber in den Himmel gelangen. Auf dem Brett des Lebens spielt der Teufel mit dem Menschen und sagt ihm Schach, wer sich dann nicht schnell bekehrt, dessen Seele wird mit Matt geraubt.“
Eine eigene Welt wie die des Schachs konnte auf Dauer natürlich auch nicht ohne Gottheit auskommen. Die Schachgöttin Caissa trägt ihren Namen nach einem Gedicht des Engländers Sir William Jones von 1763, der sich dabei von einer lateinischen Vorlage des italienischen Priesters Marcus Hieronymus Vida um 1510 inspirieren ließ. Bei Jones fordert der Kriegsgott Mars vom Gott des Sports ein Spiel, mit dem sich Caissas Herz gewinnen lässt. Es gibt keine Gottesdienste zu Caissas Ehren, und Stoßgebete schickt wohl auch kein Spieler zu ihr hinauf. Doch Formulierungen wie „Caissa war ihm hold“ finden sich in Partiekommentaren häufig. Und dass diese Göttin – oder ist es doch eher eine verführerische Nymphe? – Macht besitzt, haben schon viele zu spüren bekommen, die in ihren Bann gerieten. Dabei ist sie oft ungnädig und unbarmherzig. Nur den wenigsten ihrer Anhänger verleiht sie, was sich alle Gläubigen erhoffen: Unsterblichkeit. |
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